Es kommt nicht gerade häufig vor, dass es gelingt, ein Handschriftenfragment einem bestimmten Codex zuzuordnen. Manche Wissenschafter mühen sich jahrelang an Hunderten von Fragmenten ab, ohne einen derartigen Erfolg verzeichnen zu können. Den Grazer Forschern Ephrem Aboud Ishac und Erich Renhart dagegen war in diesen Tagen ein derartiger Erfolg beschieden. Sie konnten die obere Hälfte eines Pergamentblattes (Fragment Nr. 7), das sich heute im Mesrob Maschtots Institut für Alte Handschriften (Matenadaran) in Erevan/Armenien befindet, einer Handschrift der British Library (Add. 14654) zuordnen. Es handelt sich dabei um eine syrische Handschrift, welche in das 5./6. Jahrhundert datiert wird – das gute Stück ist demnach an die eineinhalb tausend Jahre alt!
Die Seiten der Londoner Handschrift sind digital erfasst und online zugänglich. „Erfolge wie dieser sind ohne die digitale Erschließung von Beständen aus aller Welt undenkbar. Open-Access-Politik und rasante Fortschritte in den Digital Humanities ermöglichen es Forschenden, auch in Zeiten von Reisebeschränkungen, international vernetzt zu arbeiten und manch alten Schatz zu heben“, erklärt Prof. Erich Renhart, Leiter des Grazer Forschungszentrums Vestigia.
Der Text beinhaltet unter anderem die Geschichte des Martyriums von Alexander und Theodulus. Das Erevaner Fragment ist unzweifelhaft ein Ausschnitt aus der Passio Alexandri und damit die einzige syrische Quelle zu diesem Text.
Das Erevaner Fragment ist wohl schon sehr lange von seinem Kodex getrennt. Dieser entstand im heutigen Nordirak und gelangte wohl im 10. Jh. aus dem nordmesopotamischen Raum nach Deir el Surian, ins Syrerkloster, das in der ägyptischen Wüste liegt. Von dort aus war die Handschrift nach London gekommen. Das Fragment dürfte der Handschrift vor ihrer großen Reise entnommen worden sein und ist vermutlich und hat dann zusammen mit anderem Schriftgut den Weg nach Armenien genommen. Dr. Ephrem Aboud Ishac, selbst gebürtiger Syrer und Experte auf dem Gebiet syrischer Handschriften, ist besonders glücklich über diesen Fund: „Damit hat nicht nur ein winziger Puzzlestein an seinen Platz gefunden, wir können an diesem Beispiel auch dokumentieren, wie Kulturgüter schon seit Jahrhunderten große Strecken zurücklegen, und die Zeugnisse einer ebenfalls in alle Winde zerstreuten Kultur wenigstens virtuell wieder zusammentragen.“
Die Entdeckung erfolgte im Rahmen der Arbeiten zu einem Katalog der Erevaner Syriaca (E. A. Ishac, E. Renhart, A. B. Schmidt), welcher von Vahan Ter-Ghevondyan, dem Leiter des Matenadaran (Mesrob Mashtots Institut für Alte Handschriften, Erevan) gefördert wird.